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[DE] Dokumentation und Analyse der Tornadoereignisse in Südniedersachsen am 18. Juni 2024

Der Einsatz von Drohnentechnologie und Orthomosaiken als neue Schlüsselmethoden im Dokumentations- und Auswertungsprozess.

von Hendrik Sass & Leonard Corves

(Tornadoschäden bei Heere | ©TorKUD)



Am 18.06.2024 stellte sich eine Schwergewitterlage in Teilen Deutschlands ein. In den südniedersächsischen Landkreisen Wolfenbüttel und Hildesheim führten zwei Superzellen am Abend innerhalb von nur 35 Minuten zur Entstehung von drei Tornados und einem ungeklärten Tornadoverdachtsfall. Die Schäden der Tornados wurden im Rahmen einer Vor-Ort-Untersuchung am 20. Juni 2024 systematisch durch den Einsatz einer Drohne dokumentiert, und bereits Ende Juni wurden erste Analysen veröffentlicht. Dieser Artikel beleuchtet nicht nur die Tornados vom 18.06.2024 und ihre Auswirkungen, sondern auch die verbesserten Methoden im Dokumentations- und Auswertungsprozess. Insbesondere der systematische Einsatz von Drohnentechnologie und die Vermessung mithilfe von Drohnenbild-Orthomosaiken stellen einen bedeutenden Fortschritt in der Tornadodokumentation dar und ermöglichen einen umfassenden Einblick in das Verhalten der Tornados.

(Übersicht zu den Schadenschneisen bei Hohenbüchen, Adenstedt (Verdachtsfall), Bockenem & Heere)

Hintergründe

Superzelle in Sachsen am 18.06.2024 ©unwetterjäger | www.unwetterjaeger.com
Superzelle in Sachsen am 18.06.2024 ©unwetterjäger | www.unwetterjaeger.com

Das bestimmende Tiefdruckgebiet VALESCA zog von den Britischen Inseln nach Skandinavien, während ein Höhentief vor Nordspanien heiße und feuchte Luft nach Süden und Osten Deutschlands brachte. Gleichzeitig strömte kühle Meeresluft in den Nordwesten, wodurch eine Luftmassengrenze entstand, überlagert von einem kräftigen Jetstreak aus Südwest. Innerhalb des Warmsektors bildeten sich im Tagesverlauf von Frankreich bis Ostdeutschland mehrere Wellen an Schwergewittern und Superzellen, die stellenweise großen Hagel und schwere Downbursts verursachten – wie beispielsweise bei Gröditz, wo unter anderem große Hochspannungsmasten umstürzten (Bericht - Blaulicht-Magazin). Im Bereich der Luftmassengrenze bildete sich in den Nachmittagsstunden über NRW zudem eine Randwellenstörung, welche bis zum frühen Abend nach Südniedersachsen voran kam. Dadurch kam es innerhalb des Warmsektors in Südniedersachsen zu erneuter Auslöse einzelner Gewitterzellen. Durch die vorlaufenden Unwetter stand diesen Gewittern allerdings nicht mehr viel Energie zur Verfügung, wodurch sie in ihrer Intensität vergleichsweise deutlich limitiert waren. An der Vorderseite der eingebetteten Randwellenstörung herrschten jedoch sehr günstige kinematische Bedingungen für Tornados vor. Dabei ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass der vorlaufende Regen die Atmosphäre noch zusätzlich anfeuchtete und dadurch die Tornadogenese weiter unterstützte. Aus den neu entstandenen Gewittern entwickelnden sich mehrere Superzellen in Südniedersachsen.

(Soundings (Reanalyse esamble mean) in Hohenbüchen 19:00 MESZ & Heere 20:00 MESZ)



Radaranalyse

Radaranalyse | ©NLRadar / ©TorKUD
Radaranalyse | ©NLRadar / ©TorKUD

Um 19:15 MESZ zog ein kleines Cluster, bestehend aus mehreren Gewitter- und Schauerzellen,  in den Landkreis Hildesheim. Die vorgelagerte Zelle zeigte dabei bereits eine kompakte Rotationssignatur. Gegen 19:35 MESZ entwickelte diese Superzelle den ersten Tornado unmittelbar nördlich von Hohenbüchen, der eine Strecke von über vier Kilometern zurücklegte. Darauf folgten ein möglicher Tornado bei Adenstedt gegen 19:45 MESZ und ein weiterer Tornado in Bockenem um 20:00 MESZ. Hervorzuheben ist, dass während des Tornados bei Bockenem keine deutliche Rotation mehr im Dopplerradar erkennbar ist, obwohl der Tornado eine durchgehende Strecke von über sechs Kilometern zurücklegte. Unterdessen entwickelte die nördliche Zelle zunehmend Superzellencharakter. Noch während der Tornado in Bockenem aktiv war, verstärkte sich die Rotation der nördlichen Zelle abrupt, sodass diese schließlich gegen 20:10 MESZ den stärksten der drei Tornados bei Heere hervorbrachte.

 

Die Radaranalyse zeigt, dass es sich, entgegen erster Annahmen, nicht nur um eine einzige zyklische Superzelle handelte, sondern um zwei separate Superzellen. Die Beobachtungen stimmen mit den Ergebnissen von Nixon et al. (2024) über die Tornadogenese bei benachbarten Superzellen überein. In diesem Fall produzierte zunächst die vorgelagerte Superzelle mindestens zwei Tornados, während die nördlich angrenzende Zelle noch unausgeprägt blieb. Mit der Intensivierung der nördlichen Superzelle schwächte sich die nun südliche ab, und die nördliche Superzelle brachte kurz darauf den stärksten Tornado des gesamten Ereignisses hervor.



Dokumentation

Nachdem am Abend des 18. Juni die ersten Meldungen zu den Tornados in den sozialen Medien aufgetaucht waren, wurde eine Vor-Ort-Untersuchung geplant, die am 20. Juni stattfand. Die Untersuchung der drei bestätigten Tornados erforderte etwa 12 Stunden. Die Hin- und Rückfahrt nahm mit knapp 1000 Kilometern ähnlich viel Zeit in Anspruch. Insgesamt wurden über 16 Kilometer durchgehende Schadensstrecke untersucht und 637 Boden- sowie Luftbilder aufgenommen. Zusammen mit dem Tornado in Hagen, der sich drei Wochen zuvor ereignete, markierte dies das erste Mal, dass wir Tornadoauswirkungen systematisch mithilfe einer Drohne dokumentierten. Dadurch konnten aus der Luft insgesamt über vier Quadratkilometer Fläche effizient auf Auswirkungen untersucht werden, wodurch es möglich war, drei Ereignisse dieses Umfangs innerhalb eines Tages zu dokumentieren. Zudem lieferten die Luftaufnahmen besonders aussagekräftige Perspektiven, die mit bodengebundenen Methoden unerreichbar gewesen wären.


(Orthomosaik erstellt aus Drohnenbildern der Tornadoschäden vom 18.06.2024 | ©TorKUD)

Bereits am 18. und 19. Juni wurden erste Schadensbilder aus sozialen Medien ausgewertet, um betroffene Gebiete grob zu kartieren. Dabei war noch unklar, ob es sich um einen oder mehrere Tornados handelte. Heere und Hohenbüchen galten zunächst als Verdachtsfälle, da keine Video- oder Bildaufnahmen der Tornados vorliegen. Markante Schadensorte wie in Heere, Hohenbüchen und Bockenem wurden als Anlaufpunkte definiert, da sich dort am ehesten zusammenhängende Schneisen erkennen lassen sollten. Priorisiert wurden bebaute Gebiete, da dort Schäden erfahrungsgemäß schneller beseitigt werden, als in ländlicheren Gebieten. 

 

Zum Einsatz kamen eine Drohne mit mehreren Akkus und einer Powerbank, um durchgehende Flüge zu gewährleisten, sowie eine Digital-Kamera für die Bodendokumentation. Die Drohne erwies sich als zentrales Werkzeug, um Feldspuren und unzugängliche Schadensorte zu dokumentieren, insbesondere in Heere und nördlich von Hohenbüchen, wo Schäden teils in Waldgebieten oder weit abgelegenen Feldern lagen. In den Aufnahmen gespeicherte GPS-Koordinaten erleichterten die spätere Auswertung.

(Übersicht der Vor-Ort-Dokumentation | Beige = Tornadoschneise; Gelb = Zurückgelegte Strecke zu Fuß, insg. > 20 Kilometer; Schwarz = Mit Drohne untersuchte Bereiche)

Tornadoschneise hinter Bockenem, nur durch Drohne ersichtlich
Tornadoschneise hinter Bockenem, nur durch Drohne ersichtlich

Ohne den Einsatz der Drohne hätten sich bei der Untersuchung der Tornados deutlich abweichende Ergebnisse ergeben. Beim Tornado von Heere konnten beispielsweise über 75 % der Schadensschneise nur durch die Drohne dokumentiert werden, da die Schneise überwiegend aus Feldspuren bestand. Diese Spuren sind für das Auge vom Boden aus unsichtbar, liefern jedoch entscheidende Informationen über die Dynamik des Tornados, wie die Ausprägung von Teilwirbeln und Windrichtungen. Ähnliche Beispiele finden sich bei den Tornados von Hohenbüchen und Bockenem.

 

Beim Bockenemer Tornado hätte die offizielle Schneisenlänge ohne die Drohne eine erheblich kürzere Distanz ausgewiesen. Hinter Bockenem fanden sich keine direkten Sach- oder Vegetationsschäden mehr, doch eine schmale Feldspur reichte bis weit hinter die A4. Wäre diese Spur unerkannt geblieben, hätte die Schneisenlänge mehr als zwei Kilometer kürzer angesetzt werden müssen. In Hohenbüchen war die Dokumentation der intensivsten Schäden im Waldgebiet nördlich des Ortes ebenfalls nur dank der Drohne möglich, da das betroffene Gebiet ohne sie nicht zugänglich gewesen wäre. Diese Beispiele unterstreichen die entscheidende Rolle der Drohne für umfassende und präzise Vor-Ort-Untersuchungen, weshalb sie sich als unverzichtbares Werkzeug für zukünftige Vor-Ort-Dokumentationen erwiesen hat.

(Übersicht der Vor-Ort-Dokumentation | Beige = Tornadoschneise; Blau = Abschnitte der Schneise, auf denen Auswirkungen nur unter Einsatz der Drohne aussagekräftig dokumentiert werden konnten)

Die Dokumentation lieferte wertvolle Erkenntnisse für zukünftige Untersuchungen:

  • Drohnen sind unverzichtbar für die Dokumentation:
    • von Feldspuren, die vom Boden aus nicht sichtbar sind und
    • von Schäden an schwer zugänglichen Orten (z. B. Waldgebiete, abgelegene Felder)
  • Die Kombination von Drohnenaufnahmen und Bodeninspektionen ist essenziell für eine umfassende Dokumentation.
  • Die Möglichkeit, sich als Dokumentationsteam auszuweisen (z. B. durch Visitenkarten), erleichtert die Arbeit vor Ort.


Auswertung & Ergebnisse

Nach Abschluss der Vor-Ort-Dokumentation wurden die erfassten Schadensdaten zunächst auf einer interaktiven Karte über Google My Maps verzeichnet. Dies ermöglichte die Ermittlung zentraler Parameter wie der Gesamtlänge der Schneise – gemessen von der ersten bis zur letzten festgestellten Auswirkung – sowie der ungefähren maximalen Breite. Zusätzlich konnten so die Stellen mit den intensivsten Schäden für alle drei dokumentierten Tornadofälle identifiziert werden.

 

Feststellung der Intensität
Für die erste Einschätzung der Tornadostärke wurden die intensivsten Schäden mithilfe der Internationalen Fujita Skala, entwickelt vom European Severe Storms Laboratory (ESSL), klassifiziert. Ersten Einschätzungen sowie begleitende Fotos wurden zur weiteren Bewertung und Diskussion an externe Experten (Thomas Sävert, Tornadoliste.de & Thilo Kühne, European Severe Storms Laboratory) weitergeleitet. In einem gemeinsamen Bewertungsprozess wird so eine gültige Intensitätseinstufung auf der IF-Skala für jeden Tornado erreicht.

(Tornadoschäden nördlich von Hohenbüchen | ©TorKUD)

Hohenbüchen:
Die schwersten Schäden traten unmittelbar nördlich von Hohenbüchen am Beginn der Schadenschneise in einem Mischwald auf. Da in diesem Wald Birken die vorherrschende Baumart sind, wurde der Schaden anhand des Schadensindikators TSW (Tree Stand, Weak = Baumbestand mit überwiegend schwachen Bäumen) bewertet. Innerhalb der Schneise wurden über 90 % der Bäume entwurzelt oder abgeknickt, was den höchsten Schadenwert (Degree of Damage, DoD 4) für diesen Indikator ergibt. Die Tornadointensität wird an dieser Stelle daher mit IF1.5 (TSW, DoD 4) eingestuft. Hervorzuheben ist, dass auch die Randbäume, die in der Regel eine größere Standfestigkeit aufweisen, ausnahmslos umstürzten. Ebenso wurden sämtliche Bäume stärkerer Baumarten im betroffenen Bereich zerstört. Eine geringfügig höhere Intensität (IF2) ist demnach nicht ganz auszuschließen, es handelt sich um einen Grenzfall. In solchen Fällen sollte sich an die niedrigere Einstufung - in diese Fall IF1.5 - gehalten werden, da diese eindeutig gesichert ist. 

 

(Tornadoschäden an der K75 bei Heere ©TorKUD | Bild Mitte: ©Feuerwehren der Samtgemeinde Baddeckenstedt | Bild Rechts: vorher-nachher Vergleich ©TorKUD & ©Google Street View)

Heere:

Die schwersten Schäden traten im letzten Drittel der Schneise entlang der K75 auf. Auf einer Länge von etwa 400 Metern kam es zu signifikanten Schäden. In einem Mischwald westlich der K75 wurden großflächig Bäume entwurzelt oder abgeknickt. Anders als in Hohenbüchen bestand dieser Baumbestand überwiegend aus Arten mit durchschnittlicher Standfestigkeit, weshalb der Schadensindikator TSA (Tree Stand, Average = Baumbestand mit Bäumen durchschnittlicher Standfestigkeit) herangezogen wird. Besonders in der Draufsicht, die das Orthomosaik liefert (Bild oben, links), wird deutlich, dass mehr als 90 % der Bäume in diesem Bereich zerstört wurden, einschließlich der Randbäume. Die verbleibenden Bäume wurden größtenteils teilentastet. Diese Schäden entsprechen dem höchsten Schadensgrad (Degree of Damage, DoD 4) und führen zu einer Einstufung der Tornadointensität mit IF2 (TSA, DoD 4).

 

Beim Überqueren der nachfolgenden K75 wurden drei Linden erheblich entastet. Der vorher-nachher-Vergleich (Bild oben, rechts) verdeutlicht, wie viel Kronenvolumen durch den Tornado abgetragen wurde. Linden gelten nicht als schwache Baumart, weshalb hier der Schadensindikator TRA (Tree, Average = Baum durchschnittlicher Standfestigkeit) angewendet wird. Da deutlich über ein Drittel des Kronenvolumens abgetragen wurde, ohne dass der Stamm brach, und nur wenige Äste und Blätter im unteren Bereich erhalten blieben, kann der Schadensgrad DoD 6 festgestellt werden. Dies ergibt erneut eine Einstufung der Tornadointensität mit IF2 (TRA, DoD 6), was durch die bereits zuvor festgestellten IF2-Schäden untermauert wird.

 

Tornadoschäden in Bockenem ©Michael Vollmer
Tornadoschäden in Bockenem ©Michael Vollmer

Bockenem: 

Der Tornado beschädigte Zahlreiche Dächer und Bäume in den Orten Bönnien und Bockenem. Die Intensität war dabei sehr gleichbleibend und lag im Bereich von IF0.5 bis IF1. Es ergibt sich ein gleichmäßiges Muster, bestehend aus mäßig beschädigten Ziegeldächern (starke Ziegeldächer, BNTS, DoD 1 = IF1), entwurzelten Bäumen (sowohl mit schwacher als auch durchschnittlicher Standfestigkeit, TRW/TRA, DoD 3 = IF0.5 bis IF1) sowie abgebrochenen Ästen (hauptsächlich TRA, DoD 1 = IF0.5). Die maximale Intensität liegt somit bei IF1.

 



Für jeden der drei Tornados wurde eine umfassende Analyse erstellt, die den Verlauf und die Intensitätsentwicklung der Tornadoschneise detailliert beschreibt. Schäden in verschiedenen Abschnitten der Schneise wurden hierbei eingehend beschrieben und entsprechend der IF-Skala bewertet. Begleitende Grafiken, wie der genaue Schneisenverlauf, Wirkungsrichtungen, sowie Eckdaten wie Schneisenlänge und -breite, betroffene Orte, eventuelle Personenschäden und ggf. Bild- bzw. Videoaufnahmen der Tornados ergänzen diese Analysen. Die finalen Analysen werden veröffentlicht, jedoch nur mit einer Auswahl an Schadensbildern. Alle weiteren Daten und Bilder werden archiviert und spezifischen Interessensgruppen über eine Cloud-Plattform zugänglich gemacht.


Erkenntnisgewinn durch Orthomosaike
Ein neuer Bestandteil der Auswertungen waren erstmals Orthomosaike der Drohnenbilder, angelehnt an das kanadische Northern Tornadoes Project (NTP) der Western University. Die Drohnenaufnahmen werden dabei auf Satellitenbilder in Google Earth projiziert, was eine präzise Vermessung und Darstellung der Tornadoschneise ermöglicht. 

(Orthomosaik zum Heere Tornado | Weiß = Bereich mit Auswirkungen; Grün = IF1; Gelb = IF1.5; Orange = IF2 | Drohnenbilder ©TorKUD & Satellitenbilder ©Google Earth)

Vermessung einer schmalen Feldspur zu Beginn der Heere-Schneise
Vermessung einer schmalen Feldspur zu Beginn der Heere-Schneise

Ein zentraler Aspekt ist die Möglichkeit, Tornadospuren äußerst präzise zu vermessen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Heere-Tornado, der direkt zu Beginn der Schneise eine Feldspur von weniger als zwei Metern Breite hinterließ. Diese Spur konnte erst durch die Überlagerung von Drohnenbildern auf Satellitenbilder in Google Earth exakt vermessen werden. Dank der Deckungsgleichheit der Drohnenaufnahmen mit den Satellitenbildern ist eine korrekte Skalierung gegeben, was exakte Messungen mit den in Google Earth integrierten Werkzeugen ermöglicht. Dies erlaubt es, Parameter wie die Breite und Länge der Schneise genaustens zu bestimmen.

 

Die Tornadofälle Heere und Hohenbüchen wurden bereits im Juni mittels eigens erstellter Karten, basierend auf den Bildaufnahmen der Vor-Ort-Dokumentation, vermessen. Durch die erneute Vermessung mithilfe der Orthomosaike ergeben sich leicht abweichende, jedoch deutlich präzisere Werte:

 

Heere

  • Schneisenlänge: 5,2 Kilometer
  • Breiteste Stelle: 375 Meter (an der K75, wo es zu den intensivsten Schäden des Falles kam)
  • Schmalste Stelle: 1,5 Meter (direkt zu Schneisenbeginn)
  • Durchschnittliche Breite: 110 Meter (gemittelt aus 10 Werten, Extremwerte nicht berücksichtigt)

 

Hohenbüchen

  • Schneisenlänge: 4,55 Kilometer
  • Breiteste Stelle: 370 Meter (nördlich von Hohenbüchen, direkt zu Schneisenbeginn)
  • Schmalste Stelle: 30 Meter (nördlich von Gerzen)
  • Durchschnittliche Breite: 130 Meter (gemittelt aus 10 Werten, Extremwerte nicht berücksichtigt)

(Tornadoschneisen von Heere (links) und Hohenbüchen (rechts) | Initiale Vermessung im Juni 2024 = Gelb; Vermessung mithilfe der Orthomosaiken = Rot)

Tornadodynamik und Analyse des Windfelds 

Beide Tornados durchliefen jeweils zwei Phasen: Eine, in der nur ein einziger Hauptwirbel im Schneisenzentrum durch Feldspuren erkennbar ist, und eine in der mehrere Teilwirbel erkennbar sind, die ihrerseits wiederum um die zentrale Zirkulation geführt wurden (erkennbar durch  zykloide Feldspuren). Beide Tornados durchliefen jeweils eine Transition von der einen Phase zur anderen. 

 

In Hohenbüchen ist die Schneise bereits zu Beginn über 200 Meter breit und das Vorhandensein mehrerer ausgeprägte Teilwirbel wird durch Feldspuren erkennbar, was mit der höchsten festgestellten Intensität einherging. Im weiteren Verlauf verengt sich die Schneise deutlich, sodass nur noch ein klassischer Hauptwirbel im Zentrum in Zugrichtung erkennbar ist. Hierbei nimmt die Intensität der Schäden deutlich ab.


Der Heere Tornado wiederum begann schmal und ließ zunächst nur einen durchgehenden Wirbel im Zentrum der Schneise erkennen. Erst in der zweiten Hälfte wurden mehrere ausgeprägte Teilwirbel östlich der K75 sichtbar, die um die Hauptzirkulation geführt wurden. Genau wie bei Hohenbüchen traten die intensivsten Schäden und die breiteste Stelle im Bereich der entstanden zykloiden Feldspuren auf.

 

Der Tornado, der durch Bönnien und Bockenem zog, wies über seinen gesamten Verlauf hinweg nur einen Hauptwirbel im Zentrum der Schneise auf. Anders als bei den Tornados in Hohenbüchen und Heere traten keine markanten Intensitätsspitzen auf. Solche Maxima standen bei den behandelten Tornados schlussfolgernd offenbar in Zusammenhang mit den Phasen, in denen mehrere ausgeprägte Teilwirbel anstelle eines zentralen durchgehenden Wirbels vorhanden waren oder die Transition zu dieser Phase unmittelbar bevorstand. 

(Orthomosaik zum Hohenbüchen Tornado | Weiß = Bereich mit Auswirkungen; Grün = IF1; Gelb = IF1.5 | Drohnenbilder ©TorKUD & Satellitenbilder ©Google Earth)

Durch die Orthomosaike konnten die Windrichtungen präzise visualisiert werden. Bei der detaillierten Untersuchung der Windrichtungs- und Baumfallmuster im Fall Heere traten interessante Parallelen zu den Ergebnissen der Studie Analysis of Tornado-Induced Tree Fall Using Aerial Photography from the Joplin, Missouri, and Tuscaloosa–Birmingham, Alabama, Tornadoes of 2011 von Karstens et al. (2013), veröffentlicht in der Journal of Applied Meteorology and Climatology, auf. In dieser Studie wurde das Windfeld zweier verheerender Tornados (EF4 und EF5) anhand der Baumfallrichtungen analysiert.

 

In der Entstehungsphase des Tornados war ein konvergentes Fallmuster vorherrschend, das durch radiale Winde verursacht wurde (s. Bild unten links). In der Reifephase trat ein halbkreisförmiges Muster auf, das durch die Dominanz der tangentialen Winde bedingt war und mit der höchsten Tornadointensität (IF2) korrelierte (s. Bild unten rechts). Diese Beobachtungen spiegeln sich – wenn auch in deutlich kleinerem Maßstab – in den Mustern wider, die auch beim Joplin-Tornado (wie in der Studie beschrieben) erkennbar sind. Karstens et al. (2013) stellen fest, dass die Dominanz tangentialer Winde und das resultierende Halbkreismuster, wie zwischen der K75 und dem zerstörten Waldstück bei Heere, typisch für Tornados von verheerender Intensität (EF4-EF5) sind. Beim Heere-Tornado lag die feststellbare Intensität jedoch deutlich unter dieser Schwelle. Die Vergleichbarkeit zwischen den beiden Fällen ist eingeschränkt, da in der Studie die Wirkungsrichtungen anhand der Baumfallmuster abgeleitet wurden, während sich die Wirkungsrichtungen in unserem Fall aus Feldspuren ableiten.

(Wirkungsrichtungen - Heere-Tornado | Blaue Pfeile = Fallrichtungen von Bäumen; Schwarz/Graue Pfeile = Feldspuren; Rote Pfeile = Teilwirbel)

 

Die plötzliche Zunahme von Intensität und Breite des Heere-Tornados an der K75 (s. Bild oben rechts) könnte auf einen sogenannten Vortex-Zusammenbruch (Vortex-Breakdown) zurückzuführen sein. Bei diesem Phänomen entsteht eine Blase aus äußerst niedrigem Luftdruck in einigen dutzend Metern Höhe, die den Zusammenfall des Hauptwirbels induziert und schließlich auf den Boden herabsinkt. Genau dann kommt es für gewöhnlich zu den intensivsten Schäden und die Breite der Schneise nimmt abrupt – wenn auch nur kurzzeitig – zu. Auch das anschließende Ausbilden mehrerer ausgeprägter Teilwirbel, die um die Hauptzirkulation geführt werden, wie es östlich der K75 feststellbar ist, ist typisch für einem solchen Kollaps. Ein anschauliches Beispiel dieses Vorgangs bietet dieses YouTube-Video von 0:20 bis 1:00.

 

(Bild Links & Mitte: Wirkungsrichtungen - Hohenbüchen-Tornado | Bild Rechts: Wirkungsrichtungen - Heere-Tornado Teilwirbel | Legende s. vorherige Bildcollage)

Erstmals in der deutschen Tornadogeschichte konnten solch aussagekräftige Feldspuren in diesem Umfang dokumentiert und mithilfe der Orthomosaike exakt untersucht werden. Besonders hervorzuheben ist dabei, wie nachvollziehbar die Teilwirbel anhand der klaren Spuren identifiziert werden konnten. Besonders markant war dies an zwei Stellen: nördlich von Hohenbüchen und östlich der K75 bei Heere, wo diese im Rahmen der Auswertung präzise vermessen und visualisiert wurden (siehe Bilder oben). Auffällig ist, dass sich die ausgeprägten Teilwirbel hauptsächlich auf der linken Seite der Schneise befanden, während sich südlich davon Ausbeulungen mit überwiegend gradlinigen Wirkungsrichtungen abzeichnen. Dies weißt in unseren Fällen auf einen verstärkten RFD hin, sobald ausgeprägte Teilwirbel auftraten. Darüber hinaus kann gut nachvollzogen werden, wie sich die Wirbel verhielten: Sie bewegten sich in einem Halbkreismuster um die Hauptzirkulation und lösten sich anschließend auf. Es entstanden keine Spuren in form geschlossener Zykloide. Die Wirkungsrichtungen deuten darauf hin, dass in den kurzlebigen Teilwirbeln vor allem radiale Winde vorherrschten (Karstens et al. 2013).

(Ausgeprägte Teilwirbel bei Heere (Bild links) und Hohenbüchen (Bild Mitte und rechts) | ©TorKUD)

Die Arbeit mit Orthomosaiken erwies sich nicht nur im Rückblick als erfolgreich, sondern hat das Potenzial, ein zentraler Bestandteil künftiger Auswertungsprozesse zu werden. Sie liefern ein einheitliches und skalierbares Analyseformat, das sowohl präzise Vermessungen als auch eine visuelle Dokumentation ermöglicht. Da die Dokumentation am 20.06.2024 nicht mit dem Ziel der Erstellung von Orthomosaiken durchgeführt wurde, traten beim späteren Zusammenfügen der Drohnenbilder Herausforderungen auf. Daher wurden Rahmenbedingungen formuliert, um den Prozess in Zukunft zu erleichtern:

  • Die Drohne ist aus größerer Höhe und senkrechten Perspektiven einzusetzen.
  • Eine größere Anzahl von Drohnenbilder ist wichtig, um die Qualität und Vollständigkeit der Orthomosaike zu steigern.
  • Eine Dokumentation im Rastermuster wäre vorteilhaft, kann jedoch nur manuell durchgeführt werden, da unsere Technik diese Funktion nicht unterstützt. Dies könnte in unserem Fall mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden sein.

Derzeit steht keine geeignete Plattform zur Verfügung, um die Orthomosaike in Form interaktiver Karten zu veröffentlichen. Die Orthomosaike stehen jedoch über eine Cloud berechtigten Interessensgruppen als Download zur Verfügung.



Tornadoverdacht in Adenstedt

Abschließend soll noch auf den bislang unveröffentlichten Tornadoverdachtsfall in Adenstedt eingegangen werden. Am 23.06.2024 meldete ein Anwohner Vegetationsschäden entlang einer Linie von südlich Adenstedt bis südlich Evensen, wobei zahlreiche Baumkronen beschädigt und Bäume entwurzelt worden seien. Zu diesem Zeitpunkt war die Vor-Ort-Untersuchung bereits abgeschlossen, sodass die Schäden nicht mehr durch uns überprüft werden konnten. Auch Bildmaterial liegt nicht vor.

 

Auf Satellitenaufnahmen, die kurz nach dem Ereignis aufgenommen wurden (24.06.2024) ist eine mögliche Feldspur sichtbar, die sich mit der vom Zeugen beschriebenen Schneise deckt, ebenso wie deutliche Veränderungen im Forstbestand südlich von Evensen (im Vergleich zu kurz vor dem Ereignis aufgenommenen Satellitenbildern am 15.05.2024). Diese Beobachtungen stimmen mit den Aussagen des Anwohners überein. Da sich die potenzielle Feldspur allerdings nur in einem kleinen Bereich nachvollziehen lässt, ist eine abschließende Bewertung nicht möglich. Es kann nach jetzigem Kenntnisstand nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob hier tatsächlich ein Tornado aufgetreten ist oder nicht, wenngleich einiges dafür spricht.



Fazit

Die Tornadoereignisse in Südniedersachsen am 18. Juni 2024 stellen ein bedeutendes Beispiel für die Anwendung verbesserter Methoden in der Dokumentation und Analyse von Tornados in Deutschland dar. Durch den gezielten Einsatz der Drohne und die darauffolgende Auswertung mithilfe von Orthomosaiken konnte eine detaillierte und präzise Erfassung der Tornadoschäden erfolgen, die bisherige Methoden deutlich ergänzte und erweiterte. Insbesondere die Vermessung von Feldspuren und die Untersuchung von nur aus der Vogelperspektive einsehbaren Gebieten ermöglichten tiefere Einblicke in die Dynamik der Tornados.

 

Zusammenfassung der Ergebnisse:

  • Die Analyse der Radardaten zeigte, dass es sich nicht um eine einzelne zyklische Superzelle handelte, sondern um zwei benachbarte Zellen, die Tornados produzierten und sich entsprechend der Erkenntnisse von Nixon et al. (2024) beeinflussten.
  • Die Untersuchung von Wirkungsrichtungen lässt beim Heere-Tornado eine deutliche Einordnung in die von Karstens et al. (2013) definierten Entstehungs- und Reifephasen zu.
  • Beim Heere- und Hohenbüchen-Tornado wurden jeweils zwei Phasen identifiziert: eine mit einem zentralen Hauptwirbel und eine mit mehreren Teilwirbeln, die um die zentrale Zirkulation geführt wurden.
  • Intensitätsmaxima traten auf, als die Tornados in die Phase mit mehreren Teilwirbeln übergingen oder sich bereits in ihr befanden. Beim Bockenem-Tornado, der diese Phase nicht durchlief, konnte kein Intensitätssprung festgestellt werden.
  • Das Vorhandensein mehrerer Teilwirbel ging bei dem Heere- und Hohenbüchen-Tornado mit einem verstärkten RFD einher.
  • Ein Vortex-Zusammenbruch (Vortex-Breakdown) könnte die plötzliche Zunahme der Intensität und die Ausweitung der Schneise des Heere-Tornados im Bereich der K75 erklären.
  • Mithilfe der Orthomosaike konnten die Schneisen erneut Vermessen werden, was zu aktualisierten, deutlich exakteren Werten bei den Schneisenparametern geführt hat.

 

Der Auswertungsprozess hat deutlich gemacht, dass der Einsatz von Drohnen bei der Vor-Ort-Untersuchung von Tornadoschäden in Zukunft unverzichtbar für eine präzise und umfassende Analyse ist. Orthomosaike bieten eine präzise Darstellung der Tornadoschneisen und ermöglichen eine exakte Vermessung der Schadensbereiche, die mit bisherigen Methoden nicht möglich war. Diese Methoden werden daher zu einem zentralen Bestandteil zukünftiger Auswertungsprozesse und sind essentiell für die kontinuierliche Verbesserung unserer Tornadodokumentation.

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